Das Haus, das gestern noch nicht da war

LEBENSGESCHICHTEN

Als Clara in die Altstadt von Elmsbridge zog, suchte sie keine Aufregung – nur Ruhe.

Nach dem Wirbel einer geplatzten Verlobung und jahrelangem Stadtlärm sehnte sie sich nach Stille wie nach einem vergessenen Schlaflied. Als sie also ein bescheidenes Steinhaus am Waldrand mit efeubewachsenen Wänden und moosbedecktem Dach fand, nahm sie es ohne zu zögern an.

Die Dorfbewohner begrüßten sie mit einem freundlichen, aber distanzierten Lächeln. Elmsbridge war ein Ort, an dem jeder jeden kannte – bis Clara ankam. Trotzdem waren sie nicht unfreundlich. Nur … wachsam. Als warteten sie ab, was für ein Mensch sie werden würde.

Clara verbrachte ihre Tage mit langen Spaziergängen, einfachen Mahlzeiten und Abenden, die sie gemütlich mit einem Buch am Kamin verbrachte. Ihr Telefon klingelte selten, und das Internet funktionierte kaum. Es machte ihr nichts aus. Die Abgeschiedenheit tat ihr gut.I Met a Man Who Wasn't There (Antigonish by Hughes Mearns) - YouTube

Auf einem ihrer Morgenspaziergänge, gerade als der Nebel tief über dem Waldboden hing und die Luft nach Kiefern und Erde roch, entdeckte sie den Weg.

Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt – schmal, halb verborgen unter Laub und Gestrüpp. Etwas an ihm zog sie an. Sie folgte ihm gedankenlos, schob Äste beiseite, ihre Stiefel knirschten leise auf nassen Zweigen.

Und dann sah sie ihn.

Ein Haus.

Klein, im viktorianischen Stil, tief in den Bäumen versteckt, wo keine Straße hinführte. Die Wände waren so dicht mit Efeu umrankt, dass es schien, als wolle der Wald selbst es verschlingen. Die Farbe blätterte ab, die Fenster waren staubig, doch das Gebäude stand fest. Auf der Veranda hing eine einzelne Holzschaukel, die sanft hin und her schwang.

Clara erstarrte.

Sie hatte nicht gerade Angst. Aber irgendetwas an dem Haus fühlte sich … seltsam an. Es war zu still. Der Wald um es herum hielt den Atem an.

Vorsichtig näherte sie sich und probierte die Tür. Verschlossen. Sie spähte durch die Fenster, doch der Schmutz machte es unmöglich, hineinzusehen. Trotzdem hätte sie schwören können, dass sich etwas bewegte – ein flackernder Schatten, eine Gestalt, die aus dem Blickfeld trat.

Doch als sie blinzelte, war es verschwunden.

An diesem Nachmittag besuchte sie die Dorfbäckerei und erwähnte beiläufig das Haus.

Der alte Mr. Pritchard, der stets eine zu große Mütze trug, hörte auf, Teig zu kneten, und musterte sie lange und ausdruckslos.

„Das Haus?“, murmelte er. „Es ist vor zwanzig Jahren abgebrannt. Blitzeinschlag. Nur Asche und Knochen sind übrig. Seitdem hat niemand mehr dort gebaut.“

Claras Haut kribbelte. „Ich habe es heute Morgen gesehen.“

„Nein“, sagte er schlicht.

Am nächsten Morgen kehrte sie zum Pfad zurück.

Diesmal war er schwerer zu finden, als hätte sich der Wald über Nacht geschlossen. Doch sie marschierte weiter, ihr Herz klopfte vor Furcht und Neugier.

Schließlich fand sie die Lichtung.

Das Haus war verschwunden.

An seiner Stelle stand ein Stück geschwärzte Erde. Verkohlte Baumstümpfe. Verbrannte Wurzeln. Eine Stille, so tief, dass sie ihr in den Ohren klang.The House That Wasn't There (Short 2018) - IMDb

Sie stand wie angewurzelt da. Ihr Verstand suchte nach Erklärungen – Wahn, Erschöpfung, vielleicht sogar irgendein bizarrer Streich aus der Gegend. Doch dann bemerkte sie eine Bewegung.

Eine Holzschaukel.

Die am Ast einer nahegelegenen Eiche hing.

Sie schwankte langsam.

Es wehte kein Wind.

Clara erzählte es niemandem. Nicht schon wieder. Sie wollte diesen Blick in Mr. Pritchards Augen nicht sehen.

Doch etwas an diesem Erlebnis klebte an ihr wie Nebel in ihrer Lunge. In dieser Nacht träumte sie von dem Haus. Diesmal war es heller, von innen erleuchtet, als würde es warten. Sie träumte von einer Frauenstimme, die hinter der Tür ihren Namen flüsterte. Und als sie aufwachte, roch ihr Häuschen leicht nach Rauch.

In den folgenden Wochen begann sich Clara zu verändern.

Sie ging öfter spazieren, immer in Richtung Wald. Sie verbrachte Stunden damit, das Haus aus dem Gedächtnis zu skizzieren. Sie bemerkte allmählich kleine Dinge, die nicht an ihren Platz gehörten: schlammige Fußabdrücke vor ihrer Tür; Efeu rankte sich um das Fensterbrett; ihr Schaukelstuhl knarrte in der Nacht.

Sie sah das Haus noch dreimal.

Immer, wenn der Nebel am dichtesten war. Immer, wenn sie allein war. Jedes Mal schien es näher – weniger verborgen.

Eines Nachts, als sie nicht schlafen konnte, nahm sie eine Laterne und kehrte zum Weg zurück.

Es wartete auf sie.

Aber dieses Mal stand die Tür offen.

Drinnen war es kalt und trocken im Haus. Alles war staubbedeckt, doch die Luft fühlte sich … frisch an. Als wäre gerade erst jemand hindurchgegangen. Es gab keine Spinnweben. Das Brennholz im Kamin sah frisch aufgeschichtet aus.

Clara ging langsam durch die Zimmer. An den Wänden hingen Fotos – Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen, die sie nicht kannte. Doch manche Gesichter kamen ihr seltsam bekannt vor.

Im Wohnzimmer spielte ein altes Grammophon eine Melodie, die sie, so schwor sie, in ihrer Kindheit gehört hatte. Im Obergeschoss war ihr Name in den Bettrahmen eines Schlafzimmers geschnitzt.

Doch das Seltsamste war der Spiegel.

Er stand am Ende des Flurs, hoch und in angelaufenem Silber gerahmt, sein Glas staubfrei. Clara trat näher. Ihr Spiegelbild starrte zurück – doch etwas stimmte nicht.

Der Raum hinter ihr war anders.

Im Spiegel war die Tapete heller, die Möbel neuer, die Fenster offen für einen sonnigen Nachmittag, den es im echten Haus nicht gab. Und hinter ihrem Spiegelbild stand eine Frau.

Nicht Clara.

Das Gesicht der Frau war blass, ihre Augen dunkel und hohl, ihr Mund bewegte sich zu langsamen, lautlosen Worten. Clara drehte sich abrupt um – niemand war da. Doch im Spiegel war die Frau noch da.

Dann lächelte ihr Spiegelbild.

Nicht Claras Lächeln.

Das Licht von Claras Laterne flackerte.

Und in diesem Moment blinzelte ihr Spiegelbild.

Sie tat es nicht.

Die Flamme erlosch.

Dunkelheit verschluckte den Flur.

Als der Morgen anbrach, bemerkten die Stadtbewohner etwas Seltsames. Der Efeu um Claras Hütte war wild gewachsen, wand sich über das Dach und verschloss die Fenster wie ein Grab. Seit Tagen hatte niemand sie gesehen.

Und tief im Wald, wenn der Nebel dicht ist und der Weg wieder sichtbar wird, sagen manche, sie hätten ein Licht durch die Bäume wandern sehen. Ein Flackern. Eine Laterne.

Und manchmal – kurz vor Sonnenaufgang – summte jemand ein Schlaflied, sanft wie Rauch.

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